- Pop-Art: »Eine Kunst der Unterwäsche und für Autotaxen«
- Pop-Art: »Eine Kunst der Unterwäsche und für Autotaxen«Obwohl die Bezeichnung »Pop-Art« gut 40 Jahre alt ist, scheint sie immer noch den Reiz des Jungen und des Frischen zu haben. Als der britische Kunstkritiker Lawrence Alloway den Begriff Mitte der Fünfzigerjahre erstmals verwendete, benannte er mit ihm das Phänomen einer selbstständigen Volks- und Subkultur, zu deren populären Publikationen vor allem die Reklameannoncen und Sciencefictionillustrationen der Zeitschriften gehörten. Für die Stilgeschichte der Kunst wäre die Pop-Art vielleicht nur eine Episode geblieben, hätte sie nicht etwas entscheidend Neues geleistet: Indem sie die Trivialsprache und die Ikonographie der Konsumgesellschaft in das künstlerische Schaffen integrierte, riss sie die Schranke zwischen dem banalen Alltag und der hohen Kunst nieder. Eine neue Sammlerschicht stürmte die Galerien, Ausstellungen wurden zu Massenereignissen, die Museen mussten - vor allem in Europa - ihre Programme und Konzepte angesichts eines neuen Publikums umstellen.Der Einbruch der trivialen Bildwelt in die von abstrakten Richtungen dominierte Kunstszene der Fünfzigerjahre war plötzlich, wild und unaufhaltbar. Abstrakter Expressionismus und Actionpainting hatten in den USA, Tachismus und Informel in Europa das Ausstellungswesen und den Kunstmarkt beherrscht. Die persönliche Handschrift des Künstlers, die geheime Botschaft der Seele, der malerische Prozess hatten im Mittelpunkt gestanden. Gegen diesen Elfenbeinturm der »hohen Kunst« rannte die Pop-Art mit aller Macht an. Sie revolutionierte nicht nur die Definition dessen, was Kunst sei, sondern bezog auch den Betrachter auf eine ganz neue Art in das Kunstwerk ein.Als wichtige Wegbereiter der Pop-Art waren Robert Rauschenberg und Jasper Johns in ihrem Frühwerk zwar noch der Formensprache des abstrakten Expressionismus verpflichtet, doch ihre künstlerische Strategie ging in eine ganz andere Richtung. In seine Materialbilder, die er in Verbindung mit Malerei gestaltete und daher »Combinepaintings« nannte, integrierte Rauschenberg Objekte, die er auf den Straßen New Yorks gefunden hatte. Das »Strandgut des Alltagslebens« konnte für ihn die gleiche Funktion innehaben wie klassische Materialien: »Aus einem Paar Socken kann man nicht weniger gut ein Bild machen als aus Holz, Nägeln, Terpentin, Öl und Leinwand«.Johns, der wie Rauschenberg eines der legendär gewordenen Atelierlofts im New Yorker Stadtteil SoHo bewohnte, schuf 1960 die Plastik »Bemalte Bronze (Bierdosen)«: Indem er zwei leere Bierdosen, Abfallprodukte der modernen Wegwerfgesellschaft, in Bronze, einem hochwertigen künstlerischen Material, nachbildete und sie hervorgehoben auf einem Sockel platzierte, entstand eine eigenständige Skulptur. Zugleich forderte dieses Werk den Betrachter auf, Gegenständen Aufmerksamkeit zu schenken, die sonst unbeachtet bleiben, und sich von der bloßen Erscheinung der Dinge nicht täuschen zu lassen.Anders verfuhr Claes Oldenburg, der die kalte Kantigkeit und die serielle Perfektion von Alltagsgegenständen wie Waschbecken, Lichtschaltern oder Badewannen verwandelte, indem er sie in weichen Stoffen nachbildete. Dadurch erscheinen sie auf einmal linkisch und müde; fast empfindet man sie als gutmütig oder traurig - menschliche Züge kehren in die vertrauten Objekte ein. Weiche Objekte wie Kleidungsstücke oder Blumen formte Oldenburg dagegen in harten Materialien wie Gips, Draht und Holz nach.Roy Lichtenstein war von der Welt der Massenmedien, der Zeitungen, der Illustrierten, der Filme und des Fernsehens fasziniert und wählte daher ganz besondere Vorlagen für seine Werke: die Comicstrips. Deren Beliebtheit erklären Soziologen damit, dass in ihnen die Gefühle, die Ängste und die Wünsche der Konsumgesellschaft Ausdruck fänden. Lichtenstein verfremdete die den Comics entnommenen Bilder, indem er sie meist auf das Fünfzigfache vergrößerte. Die neuen Proportionen ergaben auch veränderte Formen, das ganze Liniengerüst musste oft neu durchdacht und durchgezeichnet werden. Was Lichtenstein interessierte, war der gezielte Ausschnitt, die Arabeske, in der die Bewegung der Linien zum Zeichen gerinnt. Seine einst so respektlos erscheinenden, mit Schablone flächig gemalten Bilder sind längst zu klassischen Ikonen der Sechzigerjahre geworden.Andy Warhol war die Kultfigur, der Mythos der Pop-Generation. Konsequenter als alle anderen erhob er die Pop-Art zu seinem Lebensstil, indem er sich selbst als Kunstwerk inszenierte. Er erkannte die Mechanismen einer Gesellschaft, in der die Stars an die Stelle der Heiligen treten: Ihr Leben wird zur Legende, ihre Gestalt erscheint in unendlicher Wiederholung auf Plakaten, auf Geschenkpackungen, in der Zeitung und in der U-Bahn. Elvis Presley, Liz Taylor, Marilyn Monroe sind Gestalten, die aus der anonymen Masse hervorgehoben sind; sie haben einen Namen, ein Gesicht. Doch durch die stereotype Wiederholung in Warhols Bildern werden sie wieder zu Klischees, zu erstarrten Wunschbildern der Gesellschaft. Von Warhol gingen in der bildenden Kunst, im Film und in der Literatur nachhaltige Impulse aus. Immer wieder scharte er Gruppen von Gleichgesinnten um sich, die seine Ideen und Intentionen weiterentwickelten und teilweise auch ausführten. So entstand die legendäre »Factory« in New York, eine einzigartige, lebendige Kunstfabrik, in der Zeitschriften, Filme, Gemälde und Grafik entstanden.Obwohl die Pop-Art heute meist als zeitgemäße Bekundung des »American way of life« gilt, darf man die herausragende Rolle, die Großbritannien bei der Durchsetzung dieser neuen Stilrichtung schon zu Beginn der Fünfzigerjahre spielte, nicht außer Acht lassen. In London formierte sich 1952 die »Independent Group« um Richard Hamilton. In Ausstellungen wie »This is tomorrow« setzte sie sich teils argwöhnisch, teils fasziniert mit der Konsumgesellschaft auseinander. Hamiltons programmatische Collage »Just what is it that makes today's homes so different, so appealing« (1956) enthält viele Grundelemente der Pop-Art, die Hamilton ein Jahr später auch in Worte fasste: »Populär, vergänglich, verbrauchbar, billig, massenproduziert, jung, witzig, sexy, spielerisch, verführerisch, geschäftstüchtig«. In diesem Sinn entwickelten auch Eduardo Paolozzi, Peter Blake und Allen Jones ihre Arbeiten.Ab dem Ende der Fünfzigerjahre entwickelte sich die Pop-Art aber immer mehr zu einem amerikanischen Phänomen. Sie schuf eine eigene Mythologie, zu der Johns' Flaggen-Bilder genauso gehören wie die Highway-Bilder von Robert Indiana. Dessen komplexes Gemälde »USA 666« (1966/67) verbindet biographische Eindrücke mit amerikanischen Mythen: Die »Route 66« ist einer der legendären Highways der Vereinigten Staaten, ein Symbol für den ewigen »Drang nach Westen«. Alltägliche gefühlsbetonte Schlagworte - Essen, Sterben, Umarmen, Irren - verband Indiana auf der Leinwand mit dem Kürzel USA und verlieh diesen Wörtern durch Format, Farbe und Buchstabengröße eine plakative Wirkung.Viele der Künstler betätigten sich nach ihrer Ausbildung an der Kunstakademie in der Werbebranche. So gestalteten zum Beispiel Warhol, Rauschenberg und Johns Schaufenster für das Kaufhaus Bonwit-Teller. James Rosenquist arbeitete ursprünglich als Plakatmaler; in Werken wie »Joan Crawford says. ..« (1964) übernahm er die glatte, makellose, perfekte Formensprache der Werbung mit ihren überdimensionalen, an Kinofilme erinnernden Formaten, ungewöhnlichen Bildausschnitten und der dadurch entstehenden Konzentration auf Einzelheiten. Die Welt der Klischees der Werbung findet sich auch in Tom Wesselmanns Werken wieder. In »Landschaft Nr. 2« (1964) scheinen eine Reklametafel, auf der ein fast in natürlicher Größe abgebildeter Volkswagen zu sehen ist, und ein aus einer plastischen Kunststoffmasse angefertigter Baum die Landschaft mit der miniaturhaften Familie fast zu »erdrücken«. Künstlichkeit geht vor Natürlichkeit.Pop-Art war Aufbruch, Begeisterung, aber auch Sarkasmus und Zweifel. Fraglos waren die Künstler von der zeitgenössischen kulturellen Entwicklung, der neuen Technik, den Medien fasziniert; gleichwohl ist bei ihnen immer eine unterschwellig kritische Haltung zu spüren, eine ironische Brechung, ein ständiges Infragestellen der Rituale der Massen- und Konsumgesellschaft.Dr. Evelyn WeissKunst des 20. Jahrhunderts, herausgegeben von Ingo F. Walther. 2 Bände. Köln u. a. 1998.Pop-art, herausgegeben von Marco Livingstone. Ausstellungskatalog Museum Ludwig Köln. Aus dem Englischen. München 31994.Thomas, Karin: Bis heute. Stilgeschichte der bildenden Kunst im 20. Jahrhundert. Köln 101998.
Universal-Lexikon. 2012.